Mehr Utopie von Christian Siefkes…
Ressourcen und Konflikte
Früher hatten die Leute nicht nur weniger Zeit, sondern auch mehr Sorgen. So scheinen sie geglaubt zu haben, dass die Erde für über acht Milliarden Menschen viel zu klein wäre. Bei ihrer Lebensweise war sie das wohl auch, aber heute kommen wir ganz gut damit hin. Viele ihrer Probleme hingen wohl damit zusammen, dass sie auf fast alles kleine Zettel geklebt und es als irgendjemands „Eigentum“ aufgefasst haben. Was wessen Eigentum war, darum gab es immer Streit; die einen hatten zu wenig und die anderen viel mehr als sie brauchten.
Heute sind wir da entspannter, weil wir wissen, dass wir an die Dinge, die wir brauchen, in der Regel herankommen, wenn wir sie brauchen. Strom, Wasser und Kommunikationskanäle gibt es per Mesh, medizinische Versorgung im nächsten Heilknoten oder bei Bedarf in spezialisierteren Knoten. Zum Lernen wendet man sich an einen Lernknoten, die Verkehrsverbindungen stehen allen frei zur Verfügung. Die persönliche Versorgung mit Lebensmitteln und anderen Gütern des täglichen Bedarfs erfolgt über Gartenfarmen und Fabhubs, sofern man sie nicht gleich zuhause 3D-fertigen kann. Die Bereitstellung der dafür nötigen Vorprodukte (z.B. Plastikdraht-Rollen für 3D-Drucker, Holz- und Metallplatten zum Fräsen, Garn für Strickmaschinen und Webstühle) organisieren Refeeding-Projekte. Diese „Nachfüll-Projekte“ kümmern sich auch um das Abholen und soweit möglich Recyceln der Abfälle.
Sofern es dabei zu Engpässen kommt, erfolgt die Zuteilung im Rundherum-Verfahren; zuerst werden elementare Bedürfnisse versorgt, wer ausgefallene oder weitergehende Wünsche hat, muss gegebenenfalls warten. Wer sich dabei schlecht behandelt fühlt, kann sich beim örtlichen Konfliktrat beschweren. Engpässe und Klagen sind aber recht selten, wohl auch weil wir heute weniger verschwenden. So haben die Leute früher ganz unterschiedliche elektronische Geräte für verschiedene Zwecke genutzt, obwohl in allen im Kern ein Computer steckte. Heute hat jedir eine kleine Turingbox für unterwegs, die durch variables Zubehör zu Telefon, Kamera, Navigationssystem, Audioplayer, E-Buch-Betrachter, Surftablett oder komplettem Laptop wird, je nachdem was man gerade braucht. Und eine zweite zuhause, die als persönlicher Computer, Intermeshserver, Medienzentrale und zur Steuerung der häuslichen Maschinen dient. Das reicht; man ist flexibel und schleppt weniger Ballast mit sich herum.
In jeder Gemeinde gibt es einen Ressourcenrat, der erfasst, was für Ressourcen verfügbar sind – Land, Wohnraum, Rohstoff-Fundstellen – und was davon genutzt wird und was nicht. Wer etwas braucht, z.B. privaten Wohnraum oder Räumlichkeiten oder Land für ein Projekt, fragt beim lokalen Ressourcenrat an, was verfügbar ist, und kann sich dann etwas Passendes aussuchen. Braucht man etwas nicht mehr, meldet man es dem Ressourcenrat als verfügbar.
Die Ressourcenräte sind untereinander sowie mit den Refeeding-Projekten vernetzt (Ressourcennetz), um dafür zu sorgen, dass Rohstoffe dort zur Verfügung stehen, wo sie gebraucht werden. Die allgemeine Vereinbarung ist, dass rohstoffreiche Orte mit den anderen teilen (schließlich ist es nicht ihr Verdienst, wenn sie mehr haben als andere), dass aber umgekehrt die anderen Gemeinden Freiwillige schicken, damit die Extraktion der Rohstoffe nicht komplett an einzelnen Gemeinden hängen bleibt. Früher war das nicht immer leicht zu organisieren, da der Bergbau mancherorts zu den unbeliebten Aufgaben gehörte, die sich nur per Weißer Liste bzw. per Los aufteilen ließen. Inzwischen gibt es mehr als genug Freiwillige, da ein Großteil der Ressourcen sowieso recycelt und nicht neu abgebaut wird und da der Bergbau dank verstärkter Automatisierung großteils nur noch in der Koordination und Beaufsichtigung von Maschinen besteht. Sofern dies noch nicht der Fall ist, gibt es genug Leute, die diese Arbeiten als ungewöhnliche Erfahrung und willkommene Abwechslung vom Alltag begrüßen. Früher sind Leute auf Berge geklettert, wenn sie extreme Erfahrungen machen wollten – heute gibt’s das auch noch, aber viele gehen stattdessen unter die Erde, was auch für andere nützlich ist.
Die Ressourcenräte sind auch dazu da, drohende Engpässe frühzeitig zu erkennen und nach Möglichkeit für Abhilfe zu sorgen, beispielsweise bei der Bereitstellung von Wohnraum. Werden in einer Gemeinde neue Wohnungen oder Projekträume gebraucht, sucht der Rat den Kontakt zu den lokalen Bauprojekten. Diese planen die benötigten Gebäude und koordinieren ihren Bau, falls möglich in Abstimmung mit den künftigen Nutzirn. Viele Bauprojekte setzen auf vorgefertigte Konstruktionselemente (SIPs), die automatisch fabriziert werden und vor Ort nur noch zusammengesetzt werden müssen. Dennoch ist der Bau größerer Gebäude, genau wie andere große Infrastrukturprojekte, noch vergleichsweise arbeitsaufwendig. Daher erfolgt er oft per Community-Sprint, sprich außer den Mitgliedern des Bauprojekts und den künftigen Nutzirn sind auch alle Nachbarein eingeladen, sich zu beteiligen und so die Herausforderung rasch zu bewältigen. Das ist kein Zwang, aber es hat oft den Charakter eines großen Fests – man engagiert sich zusammen und feiert anschließend gemeinsam – und viele machen mit.
Ressourcenräte erfassen auch, welche Flächen nicht genutzt werden, weil sie nach lokaler Tradition als besondere, vielleicht heilige Orte gelten, oder welche Ressourcen nicht abgebaut werden, weil dies gemäß der Auffassung von Gemeindemitgliedern zu zerstörerisch wäre. Gelegentlich gibt es darum Streit, der bis zum Konfliktrat getragen wird, doch in der Regel ist es klar, weil das grobe Konsensprinzip greift: Was vielen missfällt oder einige sehr stark stört, wird nicht gemacht.
Der Materialfluss zwischen Projekten basiert auf Absprachen mit Fabhubs, Vitaminfabriken, Refeeding-Projekten und bei Bedarf spezialisierten Zulieferprojekten über die Bereitstellung von Vorprodukten und Rohstoffen; die Ressourcenräte helfen dies zu koordinieren. Knotenorte und andere Projekte, die besondere Ausstattung benötigen, stellen diese manchmal selbst mit Hilfe nahe gelegener Fabhubs her. Oft gründen sie gemeinsam mit anderen Projekten Zulieferprojekte, die sich am Bedarf der Mutterprojekte orientieren.
Konflikträte sind dazu da, Konflikte zu lösen, wenn die Beteiligten dies selbst nicht schaffen. Während Ressourcenräte und Trassenprojekte in manchen Gemeinden per Los, anderswo aber per Selbstauswahl besetzt werden, werden die Mitglieder des örtlichen Konfliktrats überall ausgelost. Jedes Gemeindemitglied legt seisen Namen in die Losbox, sobald sei sich alt genug fühlt. Fühlt man sich zu alt oder zu krank, entfernt man den Namen wieder. Wer ausgelost wird, fungiert ein Jahr lang als Mitglied des Rats, wobei man bis zu zwölf Monate Zeit hat, das Amt anzutreten, also nicht plötzlich aus anderen Dingen herausgerissen wird. Es gibt keine zweite Amtszeit, sobald man einmal ausgelost wurde, wird der eigene Name für immer aus der Losbox entfernt. Wer Mitglied in einem regulären Konfliktrat war, kann aber noch je einmal für einen Ad-hoc-Konfliktrat, Ressourcenrat oder ein Trassenprojekt ausgelost werden (und umgekehrt), dafür gibt es separate Lostöpfe. Es ist nicht direkt Pflicht, an der Lotterie teilzunehmen oder das Amt anzutreten, gehört aber zum guten Ton.
Konflikträte sind bloß das letzte Mittel, normalerweise versuchen die Beteiligten ihre Konflikte selbst zu lösen, wobei sie bei Bedarf auf die Vermittlung freiwilliger Mediationsteams zurückgreifen können. Nur wenn dies scheitert, kann man sich an den Konfliktrat wenden. Allgemeiner Grundsatz der Konfliktlösung ist, die anderen als Peers, als ebenbürtig zu akzeptieren und ihre Bedürfnisse daher genauso ernst zu nehmen wie die eigenen. Wer dies vergisst, wird von den Menschen in seiser Umgebung freundlich daran erinnert. Meist ist es so möglich, die Konflikte im – eventuell grummeligen – Konsens der Beteiligten beizulegen, ohne den Rat beschäftigen zu müssen. Konflikte drehen sich oft um die Nutzung von Räumen (wer darf, wer muss passen?), die Belästigung oder Sorgen der realen oder potenziellen Nachbarein (die Vitaminfabrik nebenan lärmt bis in die Nacht; was wenn das Chemieprojekt giftige Gase freisetzt?) oder um Verhaltensmuster, die nicht zusammenpassen (manche wollen im Community-Café rauchen, andere leiden unter dem Rauch).
Meist lassen sich Konflikte beilegen, ohne dass jemand ganz passen muss – der zentral gelegene Platz wird dann etwa zum Community-Café oder Festplatz, das Projekt, das ihn ebenfalls gern genutzt hätte, bekommt stattdessen einen anderen, ebenfalls gut erreichbaren Ort. Rauchen kann man in Community-Cafés und anderen öffentlichen Orten in bestimmten Teilbereichen oder zu bestimmten Zeiten, nicht immer und überall. Um Konflikte um Wohnraum zu mindern, werden die schönsten Orte meist als öffentliche Räume oder Ferienwohnungen genutzt, so dass sie nicht Einzelnen vorbehalten bleiben. Projekte müssen allerdings darauf achten, dass sie Bedenken ihrer potenziellen Nachbarein ausräumen können. Gelingt dies nicht, müssen sie sich abgelegenere Orte suchen, wo sich niemand mehr belästigt oder gefährdet fühlt, oder schlimmstenfalls, wenn diverse Mitglieder der Gemeinde weiterhin große Risiken sehen und bei ihrem Veto bleiben, ganz verzichten.
Wenn sich Projekte oder Einzelpersonen über Entscheidungen des Konfliktrats hinwegzusetzen versuchen, müssen sie nicht nur mit lautstarker öffentlicher Kritik („flaming“), sondern auch mit Boykott und Ausgrenzung („shunning“) rechnen. Projekte werden dann etwa von der Versorgung mit Ressourcen und Vorprodukten abschnitten und die potenziellen Beitragenden und Nutzirn bleiben weg. Personen können aus den Projekten, in denen sie aktiv sind, ausgeschlossen werden. Ist ein Konflikt so groß, dass er sich nicht innerhalb einer einzelnen Gemeinde lösen lässt (Gemeinden haben meist etwa 20.000 bis 200.000 Einwohnirn und umfassen einige Dörfer, eine Stadt oder einen Stadtteil), wird ein Ad-hoc-Konfliktrat gebildet, dessen Mitglieder unter den Bewohnirn aller betroffenen Gemeinden ausgelost werden.
Früher dachten die Leute scheinbar, dass sich alle gegenseitig die Köpfe einschlagen würden, wenn es nicht starke Autoritäten gibt, die für Gesetz und Ordnung sorgen, und dass jedir in ständiger Sorge um seisen Besitz leben müsste, wenn nicht jedes Stück Natur und jedes Artefakt einer formell verfügungsberechtigten Eigentümer zugeordnet werden kann. Tatsächlich scheinen sie damals selbst, durch die gesellschaftlichen Strukturen, die sie sich gegeben hatten, die Probleme herbeigeführt zu haben, vor denen sie Angst hatten. Heute leben wir ohne Furcht und ohne Not in einer Gesellschaft, die keine Grenzen und keine systematische Ausgrenzung mehr braucht und in der sich alle ihren eigenen, von den anderen beeinflussten, aber nicht bestimmten Vorstellungen gemäß entfalten können. In der die menschliche Vielfalt nicht als Gefahr, sondern als Vorteil gesehen wird, der es ermöglicht, die Re/produktion gemeinsam und selbstorganisiert zu gestalten, neben dem und als Teil dessen, was das Leben schön macht.
Quelle: „etwas fehlt. Utopie, Kritik und Glücksversprechen.“ von jour fixe initiative berlin (Herausgeber), Edition Assemblage (2013).