Ich vermisse unsere Vielheit so sehr. Wirklich zu Hause sein bedeutet doch, dort zu sein, wo die Menschen sind, die man liebt. Und sie versorgt zu wissen. Shevek hat mir einen Text von Christian Siefkes gegeben. Er macht ein ungeheures Gefühl von Sehnsucht. Aber war das nicht schon immer mein Antrieb?
Stigmergische Selbstauswahl
Hinter jeder Gartenfarm und jedem Knotenort steht ein Team von Kümmerirn, von Leuten, die sich um den Ort kümmern und ihn am Laufen halten. Diese Teams finden sich per Selbstauswahl – jedir entscheidet selbst gemäß den eigenen Vorlieben und Interessen, ob, wo und wie sei sich einbringt. Dabei folgt man meist Zeichen, die andere hinterlassen als Hinweis auf Aufgaben, die sie angefangen, aber nicht abgeschlossen haben, oder deren Erledigung sie sich wünschen. Knoten und Farmen sammeln ihre offenen Aufgaben in öffentlich sichtbaren Wunschzetteln und To-do-Listen, die vor allem den Nutzirn des Orts sehr präsent sind und manche von ihnen zum Handeln motivieren, etwa weil ihnen die entsprechende Aktivität Spaß macht oder sie sie erlernen wollen. Oder um Abhilfe zu schaffen, weil sie andernfalls auf etwas verzichten müssten, das ihnen wichtig ist – etwa weil im Fabhub bestimmte Maschinen fehlen oder ausgefallen sind oder weil in der Gartenfarm niemand mehr Marmelade macht.
Oft wird man so von Nutzir eines Orts zu Beitragendir, die selbst einen gelegentlichen Beitrag zum Funktionieren des Projekts leistet – vielleicht nur einmal für ein paar Stunden, vielleicht immer mal wieder, vielleicht auch regelmäßig und intensiv, wenn man an dem Projekt, der Aufgabe oder den Leuten Gefallen gefunden hat. Aber natürlich muss man etwas nicht nutzen, um dazu beitragen zu können – das beliebte Programm „task-list“ sammelt etwa alle Hinweise, die Projekte irgendwo in der Welt hinterlassen, so dass man per Schlagwort oder per Filterung nach Region, Aufgabenart, Projektart nach spannenden Aktivitäten suchen kann.
Diese Art der dezentralen Aufgabenaufteilung wird als „Stigmergie“ bezeichnet, nach dem griechischen Wort stigma, das „Markierung“ oder „Hinweis“ bedeuten kann. Stigmergie gibt es auch in der Tierwelt, so organisieren sich Ameisen und Termiten auf diese Weise. Aber während Insekten rein instinktiv handeln, beruht die stigmergische Selbstorganisation der Menschheit auf jeder Menge bewusster Entscheidungen, ob es einim individuell sinnvoll vorkommt, bestimmte Hinweise zu hinterlassen oder aufzugreifen. Dass dabei alle ihre eigenen Wünsche, Vorstellungen und Möglichkeiten einbeziehen, sorgt für eine Priorisierung der offenen Aufgaben: Was vielen Menschen ziemlich oder einigen sehr wichtig ist, wird eher erledigt als Dinge, die überall nur Achselzucken hervorrufen. Und weil sich jedir selbst aussucht, wo und wie sei sich einbringt, sind alle motiviert und die unterschiedlichen Stärken und Fertigkeiten der Menschen kommen voll zur Geltung.
Das gilt freilich nur dann, wenn sich jedir frei gemäß den eigenen Präferenzen und individuellen Stärken einbringen kann, ohne durch gesellschaftliche Erwartungen oder fehlende Lernmöglichkeiten eingeschränkt zu werden. Früher war die Vorstellung weitverbreitet, dass bestimmte Dinge eher Frauen, andere eher Männern liegen. Solche Klischees waren selbstverstärkend, weil sie es insbesondere Frauen erschwerten, sich in „Männerbereichen“ zu betätigen, und weil die, die sich davon nicht abhalten ließen, große Widerstände überwinden mussten, bevor ihre Beiträge als ebenbürtig wahrgenommen wurden. Und umgekehrt wollten sich viele Männer mit bestimmten Dingen nicht abgeben, weil sie sie für „Frauensache“ hielten. Heute achten wir sehr darauf, solchen gesellschaftlichen Zuschreibungen, wenn sie irgendwo noch auftreten, entgegenzuwirken und es allen gleichermaßen zu ermöglichen, sich in den unterschiedlichsten Bereichen zu erproben und zu entfalten.
Früher dachten die Menschen anscheinend, dass die Gesellschaft ohne Zwang nicht funktionieren könnte, weil dann niemand etwas für andere Nützliches machen würde. Zwang wurde in verschiedenen Formen ausgeübt, am häufigsten wohl in Form von „Geld“. Geld war so etwas wie Spielchips. Was wir nur aus Spielen kennen, brauchte man damals zum Überleben. Die meisten konnten es nur als Belohnung für Arbeit bekommen, und wer nicht genug von diesen Geld-Chips hatte, war vom gesellschaftlich produzierten Reichtum ganz oder großteils ausgeschlossen. Das ging so weit, dass immer wieder Menschen verhungert sind, weil es ihnen an Geld fehlte!
Heute machen wir uns da keine Sorgen mehr. Für die meisten Aktivitäten finden sich ohne Weiteres genug Freiwillige zusammen. Wo das nicht der Fall ist, liegt es meist daran, dass die Sache nicht genügend Leuten wichtig ist, sondern nur eine vage Idee, bei der sich niemand hinreichend stark für die Umsetzung begeistern kann, oder Steckenpferd einiger weniger. Dann müssen die Leute, denen es wichtig ist, zusehen wie sie mit weniger Unterstützung über die Runden kommen, oder ganz verzichten. Das ist manchmal ärgerlich, wenn man viel Energie in eine Sache steckt, aus der dann nichts wird, hat aber noch niemand ernsthaft geschadet.
Dass es bei vielen wichtigen Dingen fast nie an Freiwilligen mangelt, hat auch damit zu tun, dass wir so vieles den Maschinen überlassen. Das fing schon früher, im Kapitalismus an, aber damals war es zwiespältig, weil die Leute eben Geld verdienen mussten, und wenn Maschinen ihre Tätigkeiten übernahmen, ging das nicht mehr. Heute haben wir dieses Problem nicht mehr und setzen noch viel stärker auf Automatisierung als damals. Wenn sich für eine Sache nicht genug Freiwillige finden (was früher öfter der Fall war), sind meist schnell Teams von Automatisierirn zur Stelle, die sich damit beschäftigten, wie sich die Aktivität so ummodeln lässt, dass sie ganz oder teilweise computergesteuerten Geräten anvertraut werden kann. Oft reicht es schon, bestimmte gefährliche, langweilige, übelriechende oder sonst wie unangenehme Seiten einer Tätigkeit auszumerzen, um die Sache für Freiwillige attraktiv zu machen.
Außerdem ist unsere Gesellschaft viel effizienter geworden, was das Volumen an benötigter Arbeit weiter reduziert. Im Kapitalismus war das Ziel ja gar nicht, die benötigten Dinge mit möglichst wenig Aufwand herzustellen, sondern alles drehte sich ums Geld. Der Gelderwerb funktionierte dabei wie ein Wettrennen – man musste sich gegen andere durchsetzen, die dasselbe wollten; je schlechter es den anderen ging, um so größere Chancen für einir selbst. Heute teilen wir Wissen, Software und Neuerungen, weil so alle besser vorankommen und weil die anderen oft ihrerseits weitere Verbesserungen oder Erweiterungen einbringen, auf die man selbst nicht gekommen wäre. Damals hat jedir seis Wissen, so gut es ging, geheimgehalten und sich dagegen gewehrt, dass die anderen es ebenfalls nutzen, um so vor den anderen ins Ziel zu kommen. Das hat zu unheimlich viel Mehrarbeit und Reibungsverlusten geführt.
Zudem haben die Firmen (Firmen waren etwas Ähnliches wie Projekte, aber ganz anders organisiert) versucht, den Leuten einzureden, sie würden die von ihnen hergestellten Dinge unbedingt brauchen, um so mehr Geld verdienen zu können. Und wenn Dinge kaputt gingen, oder manchmal auch schon vorher, wurden sie oft einfach weggeworfen und durch neue ersetzt. Heute setzen wir auf das Baukastenprinzip: Wenn ein Teil kaputt geht oder nicht mehr passt, muss bloß dieses Teil ersetzt oder angepasst werden.
Dass die Arbeit damals in Firmen organisiert war statt in Projekten, ist sicher auch ein Grund dafür, dass sich die Leute nicht verstellen konnten, dass es ohne Zwang gehen könnte. Bei Firmen gab es eine Leitungsebene, die sagte wo es lang ging, und alle anderen mussten folgen. Dass das tödlich für die Motivation war, ist klar. Man konnte vielleicht mit Glück eine andere Firma finden, die einir aufnahm, aber dann war man wieder in derselben Situation.
Dass sich die Projekte heute am Prinzip des „rough consensus and running code“ orientieren, ist gerade die Konsequenz daraus, dass sie Freiwillige organisieren und niemand zwangsverpflichten oder durch Geld bestechen können. Oft gibt es ein Kernteam oder einige Maintainer, die das Projekt gegründet haben oder per Wahl oder Kooptierung bestimmt werden. Diese koordinieren das Ganze, müssen sich aber bei allen wichtigen Entscheidungen rückversichern, dass der Großteil der Beteiligten – nicht nur aktiv Beitragende, sondern auch Nutzirn – einverstanden sind. Ohne diesen groben Konsens wird ein Projekt es nicht weit bringen, weil ihm die Freiwilligen weglaufen. Das zweite Ziel, „lauffähigen Code“ zu produzieren, erleichtert die Strukturierung der nötigen Debatten. Es geht um das Finden von Lösungen, die sich in der Praxis bewähren, nicht einfach um individuelle Präferenzen.
Anscheinend fanden die Menschen die Arbeit auch deshalb schlimm, weil sie so viel davon hatten. Die Aufteilung hat offenbar gar nicht funktioniert – einige hatten gar keine Arbeit und deshalb auch kein Geld, andere hatten zu viel Arbeit und deshalb keine Zeit. Heute haben wir alle viel Muße, zum Schlummern, Schlemmen, Spielen, Lesen, Lieben, Forschen, Filme gucken, Baden, in der Sonne liegen oder wonach uns sonst der Sinn steht. Das ist schön, aber den meisten reicht es noch nicht. Sie wollen, wenigstens ein paar Stunden pro Tag oder alle paar Tage mal, etwas machen, was auch anderen nutzt. Sie wollen mit anpacken an der Reproduktion des Alltagslebens; sie wollen etwas für die anderen, für die Community tun, weil andere so viel für sie tun. Sie wollen etwas lernen oder etwas Befriedigendes und zugleich Nützliches tun. Oder sie beteiligen sich an der Produktion eines Guts, das sie selbst gern hätten – „scratching an itch“, sich da kratzen, wo es juckt, nannte das Eric Raymond, einer der Pioniere der quellfreien Software (er sagte damals „Open Source“ dazu).
Gut funktionierende Projekte sind so eingerichtet, dass sie dies erleichtern. Sie heißen alle Neulinge willkommen und greifen ihnen bei Bedarf unter die Arme, sie integrieren Beiträge, die in die richtige Richtung gehen, und bemühen sich dort nachzuhelfen, wo es noch nicht passt. Deshalb läuft die Re/produktion heute, ohne dass wir irgendwelche Zwangsmaßnahmen brauchen. Und wenn es mal hakt, reden wir drüber und überlegen uns, wie wir mit der Situation umgehen können.
Ein Lösungsansatz für Schwierigkeiten mit der Aufgabenaufteilung sind die in vielen Gemeinden und in manchen Projekten geführten „Weiße Listen“. Dort kann jedir anonym Aufgaben eintragen, die mangels Freiwilligen immer wieder liegen bleiben oder mit denen die Freiwilligen, die sich darum kümmern, unglücklich sind. Natürlich ist niemand verpflichtet, etwas Bestimmtes zu tun, aber im Nachhinein aus einmal übernommenen Aufgaben wieder herauszukommen, fällt nicht jedim leicht, weil man vielleicht Angst hat, andere zu enttäuschen oder eine schmerzliche Lücke zu hinterlassen. Diese Aufgaben werden bei den wöchentlichen oder monatlichen Versammlungen diskutiert und wenn ein größerer Teil der Beteiligten der Meinung ist, dass sie zu Recht auf der Liste stehen, greift das Rundherum-Verfahren (round robin): Ab sofort sind alle erwachsenen Gemeindemitglieder, alle Projektbeteiligten für diese Aufgaben zuständig. Jedir sollte hin und wieder einen kleinen Teil davon übernehmen, damit sie nicht an Einzelnen hängen bleiben. Oft wird dabei ausgelost, wer wann was macht. Es gibt keine direkten Sanktionen, wenn man die Teilnahme an der Rundherum-Aufteilung verweigert, aber in der Praxis kommt das kaum vor.
Schwieriger wird es, wenn die unbeliebten Aufgaben besondere Fähigkeiten erfordern, die man sich nicht in relativ kurzer Zeit aneignen kann, doch ist das eher selten der Fall. Jedenfalls ist das Ziel, die Weißen Listen möglichst kurz werden zu lassen (am besten ganz leer, also „weiß“), indem die Aufgaben automatisiert oder so umorganisiert werden, dass sie wieder jemand Spaß machen. Oft klappt das gut. Dass die Leute früher oft unglücklich mit dem waren, was sie tun mussten, lag sicher mit daran, dass sie wenig Einfluss auf die Rahmenbedingungen und oft auch wenig Wahlmöglichkeiten hatten. Das ist heute anders.
Quelle: „etwas fehlt. Utopie, Kritik und Glücksversprechen.“ von jour fixe initiative berlin (Herausgeber), Edition Assemblage (2013).