Wir sind heute weitergereist. Wir sehen anders aus als zuvor. Unsere Fahndungsbilder greifen ins Leere. Ich lese Christian Siefkes, während mich der Zug schaukelt.
Maschen und Trassen
Dass die Re/produktion von einer Belastung, der zahllose Menschen einen Großteil ihres Lebens widmen mussten, heute zur relativ mühelosen und meist eher angenehmen Angelegenheit geworden ist, hat auch damit zu tun, dass wir wo möglich auf Maschennetze setzen. Maschennetze (mesh networks) sind dezentrale Netzwerke, die allen die Teilhabe ermöglichen und so organisiert sind, dass niemand in einseitige Abhängigkeit gerät und sich niemand eine besonders privilegierte Position verschaffen kann.
Das Internet, Vorläufer des Intermesh, war das erste globale Netzwerk, das dem Maschennetz-Prinzip schon weitgehend entsprach – es hatte kein privilegiertes Zentrum, sondern war ein Netz vieler Netze. Wenn eine bestimmte Route abgeschaltet wurde, suchten sich die betroffenen Nachrichten einfach einen Weg darum herum. Allerdings hatte es noch zentralisierte Elemente, die seitdem über Bord geworfen wurden – insbesondere DNS, den Dienst, der die im Netz verwendeten Namen bestimmten Rechnern zuordnete.
Auch die Energieversorgung erfolgt per Mesh: In den meisten Gartenfarmen stehen Windräder und fast alle Häuser haben Solarzellen oder Sonnenkollektoren für Solarthermie (die nicht nur Strom erzeugt, sondern auch Wasser aufheizt) auf dem Dach. Sofern die Energie nicht selber genutzt wird, wird sie als Elektrizität ins Powermesh eingespeist. Braucht man mehr Energie als gerade lokal verfügbar ist, entnimmt man diese dem Powermesh. Weitere Bausteine für die dezentrale Energieversorgung sind die leistungsfähigen Akkus und Superkondensatoren, die in den meisten Häusern stehen. Die lokale Kontrollsoftware entscheidet jeweils, ob sie den überzähligen Strom ins Netz einspeist oder lokal speichert, auf Basis vom Hinweisen aus dem Netz, ob gerade mehr Strom produziert als gebraucht wird oder ob es anderswo Bedarf gibt. Braucht man Strom, entscheidet sie anhand der Hinweise aus dem Netz, ob sie diesen dem Netz oder der lokalen Batterie entnimmt.
Auch andere Energiequellen wie Erdwärme und die verbleibenden Restbestände an Erdgas werden genutzt, doch Sonne und Wind sind die ergiebigsten Quellen. Sie ergänzen sich gut – bei starkem Wind ist es weniger sonnig und umgekehrt. Und die Sonne scheint mittags am intensivsten, wenn der Energiebedarf am höchsten ist. Dank der Meshsoftware kann der Strom meist relativ lokal produziert und verbraucht werden, ohne über lange Strecken transportiert zu werden, was zu Verlusten führt. Solarzellen werden gedruckt (Gedruckte Elektronik), die anderen Komponenten für die Energiegewinnung großteils per 3D-Druck und CNC-Fräsen im Fabhub vervielfältigt.
Die Wasserversorgung ist nach ähnlichen Prinzipien organisiert. Die meisten Gartenfarmen haben Brunnen zur Förderung von Grundwasser, viele Häuser haben Anlagen zum Auffangen von Regenwasser. Das Wasser wird lokal gefiltert und aufbereitet. Die verschiedenen Quellen stehen per Leitungsnetz in Verbindung, so dass bei Bedarf nahe gelegene Quellen angezapft werden können. Die Meshkontrollsoftware sorgt dafür, dass dies gleichmäßig passiert und dass das Wasser nicht unnötig weit transportiert wird; sie sorgt auch für ausreichend starken Druck in den Leitungen. Die Abwässer laufen in der Regel zurück in die Gartenfarmen, die meist über kleinere Kläranlagen verfügen. Der gereinigte Klärschlamm wird großteils als Dünger genutzt, der Rest (wenn die Schadstoffbelastung zu groß ist) zur Energiegewinnung verbrannt.
Um die Zu- und Ableitungen (Strom- und Intermeshkabel, Wasserleitungen, Kanalisation) ebenso wie um die Straßen und Verkehrswege, in die diese integriert sind, kümmern sich die Trassenprojekte. Meist werden diese, wie alle Projekte, von Freiwilligen betrieben, die sich per Selbstauswahl zusammenfinden. In manchen Gemeinden werden sie hingegen per Losverfahren besetzt, da sie für das Funktionieren der lokalen Infrastruktur so essenziell sind. In jedem Fall ist es selbstverständlich, dass Entscheidungen des lokalen Trassenprojekts im groben Konsens aller Betroffenen gefällt werden, dass die potenziellen Nutzirn der Infrastruktur in die Meinungsbildungsprozesse eingebunden werden. Denn während andere Projekte geforkt werden können – wenn man sich gar nicht einig wird, können sich die Unzufriedenen absetzen und ein Alternativprojekt aufmachen –, ist dies bei Trassenprojekten kaum praktikabel. Die vorhandenen Trassen müssen ja genutzt, gewartet und ausgebaut werden, alles andere wäre Verschwendung.
Beliebteste Straßenfahrzeuge sind Fahrräder mit Hilfsmotor (Pedelecs) und leichte Elektromobile mit drei oder vier Rädern. Letztere können auf hochgelegten, mit Leitlinien markierten Straßen vollautomatisch fahren – so werden auch Güter von A nach B gebracht. Auf ebenerdigen Seitenstraßen muss ein Mensch hinterm Steuer sitzen, der bei Bedarf eingreifen kann. In den Städten gibt es öffentliche Nahverkehrssysteme, die heute oft als Gondelbahnen gebaut werden, wie sie zuerst in Südamerika („Metrocable“) aufkamen. Die Zugseile werden dabei meist unter den hochgelegten Straßen angebracht. Für Fernreisen über Land gibt es autonom fahrende Hochgeschwindigkeitszüge (oft Magnetschwebebahnen). Das E-Bike bzw. E-Mobil lässt man dabei am Bahnhof stehen und holt sich am Zielort ein anderes.
Übers Meer braucht es keine Trassenprojekte, um die Schifffahrt kümmern sich viele Projekte, die für große Entfernungen oft Luftkissenboote betreiben. Das geht nicht ganz so schnell wie die Menschen früher, zu Zeiten des reichlichen Öls, gereist sind. Heute ist man von Lissabon bis New York knapp zwei Tage unterwegs; das schnellste Flugzeug, die Concorde, schaffte diese Strecke einst in unter vier Stunden (allerdings nur wenige Jahrzehnte lang). Aber wir haben ja auch mehr Muße als die Menschen damals, und übers Wasser spritzen ist eine schöne Art zu reisen.
Quelle: „etwas fehlt. Utopie, Kritik und Glücksversprechen.“ von jour fixe initiative berlin (Herausgeber), Edition Assemblage (2013).