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Dr. Christian Siefkes über Gartenfarmen und Knotenorte:

Essen baut man nicht zuhause an, das wächst in Gartenfarmen. Früher haben die Menschen unterschieden zwischen Gärten und Parks, die in erster Linie der Erholung dienten und Farmen, auf denen Agrikultur und Viehzucht betrieben wurden. Heute fällt das zusammen. Alle Gartenfarmen sind allgemein zugänglich. Sie versorgen die Menschen mit Lebensmitteln und erneuerbaren Rohstoffen, sind aber auch Orte der Erholung und Entspannung. Felder, Beete und Gehege werden durch Spielflächen und Badestellen ergänzt.

Je nach Präferenz der Betreiberprojekte werden die unterschiedlichsten landwirtschaftlichen Methoden eingesetzt. Beliebt sind Permakultur sowie Verfahren, die auf hohe Erträge selbst bei kleinen Flächen ausgelegt sind, etwa die biointensive Methode und Hügelkultur. Ebenfalls weit verbreitet, weil arbeitssparend und sehr ertragreich, ist die Pflanzenzucht in anorganischen Nährböden statt in Erde (Hydrokultur). Bei der Aquaponik wird dies mit Fischzucht in Behältern oder offenen Teichen kombiniert. Die Pflanzenbetten werden gelegentlich mit dem nährstoffreichen Wasser aus den Fischbecken getränkt, so dass auf künstliche Nährlösungen verzichtet werden kann.

Zur Verteilung ihrer Produkte wenden die Gartenfarmen das Pub/Sub-Verfahren an. Sie kündigen an, was sie produzieren wollen („publish“). Wer in einer Gegend wohnt oder sich längere Zeit aufhält, abonniert („subscribe“) das Programm einer nahe gelegenen Gartenfarm und wird von dieser dann regelmäßig mit frischen Produkten versorgt. Dabei gibt man an, was man gerne mag und was man nicht essen will oder kann (viele Leute essen kein Fleisch). Wenn man mehr braucht, weil Besuchirn kommen oder für ein Fest, sagt man am besten ein paar Tage vorher Bescheid, damit sich die Farm darauf einstellen kann. Ebenso wenn man verreist und das Abo unterbricht.

Anhand der Abos können Gartenfarmen den Bedarf nach ihren Produkten abschätzen und entsprechend produzieren. Wenn mehr nachgefragt wird, als eine Farm produzieren kann, und es nahe gelegene ungenutzte Ländereien gibt, kann sie die Produktion aufstocken und dies dem Ressourcenrat melden. Andernfalls verweist sie die zusätzlichen Abonnentein an Gartenfarmen in der Umgebung.
Die meisten Gartenfarmen haben Koch/Backfabriken auf ihrem Gelände, wo sie Brot backen, Marmeladen und andere Aufstriche vorbereiten und Mahlzeiten vorkochen. Alle Gartenfarmen sind Teil des Gartennetzes, das für das überregionale Teilen von Pflanzen, die nur in bestimmten Klimazonen gedeihen, entwickelt wurde. Jede Farm meldet ihren Bedarf für (in ihrer Gegend) „exotische“ Pflanzen an. Die Farmen in den passenden Klimazonen teilen diese zusätzlichen Bedürfnisse unbürokratisch untereinander auf und produzieren entsprechend mehr. Dieses weltweite Nehmen und Geben ist für die Beteiligten weniger aufwendig als „exotische“ Pflanzen in Gewächshäusern zu züchten (obwohl auch das vorkommt), und angenehmer, als ganz darauf zu verzichten. Auch bei lokalen Engpässen oder Überschüssen springt das Gartennetz ein.

Weitere Anlaufstellen für die Re/produktion werden als Knotenorte oder Dezentren bezeichnet. Hier finden Dinge statt, die sich nicht gut so stark dezentralisieren lassen wie die häusliche Küchenfabrikation, doch genau wie letztere basieren sie auf den Ideen der Kopierbarkeit und Adaptierbarkeit. Alles wird offengelegt, damit Leute, die passende Knotenorte in ihrer Nähe vermissen oder mit den vorhandenen unzufrieden sind, die anderswo funktionierenden Konzepte aufgreifen und nach eigenen Wünschen anpassen können. Der Sammelbegriff „Knotenort“ steht für ganz unterschiedliche Orte, die mal zusammen, mal räumlich getrennt anzutreffen sind – Lern- und Forschungsknoten, Heil- und Pflegeknoten, Vitaminfabriken, Fabhubs, Community-Cafés und anderes. All diese Orte werden von Freiwilligen betrieben, die sich zusammentun, um sie aufzubauen und in Betrieb zu halten.

Lern- und Forschungsknoten kommen oft zusammen vor – in ersteren wird gelernt, in letzteren geforscht und Wissenschaft betrieben. In Heilknoten werden Kranke und Unfallopfer behandelt, Operationen durchgeführt und Kinder zur Welt gebracht; hier bekommt man Medikamente und findet Ärzte, die sich um Zähne, Augen und andere bedürftige Körperteile kümmern. Pflegeknoten widmen sich der Körperpflege und dem körperlich/geistigen Wohlbefinden – ob Haare schneiden oder Massage. Heil- und Pflegeknoten haben normalerweise auch Teams von mobilen Pflegirn, die sich um besonders pflegebedürftige Kranke und Alte kümmern, und mobile Rettungsteams, die im Notfall erste Hilfe leisten.

In Vitaminfabriken werden keine Nahrungsmittel hergestellt, dafür gibt es ja Gartenfarmen. „Vitamine“ sind die Zubehörteile für Küchenfabrikation und Fabhubs, die sich nicht effizient dezentraler herstellen lassen – insbesondere elektrische und elektronische Bauteile wie Motoren, Leuchtdioden und Mikrochips. Mikrochips, das Herz jedes Computers, ließen sich bis vor einigen Jahren nur in extrem aufwendig zu errichtenden Halbleiter-Fabs (Fabrikationsanlagen) herstellen, von denen es weltweit nur einige Dutzend gab. Manche Leute fürchteten, dass die Betreiberprojekte dieser Fabs zu mächtig werden könnten – dass sie sich zusammentun und den Rest der Welt erpressen könnten mit der Drohung, ihnen sonst den Zugang zur Chips und damit die Teilhabe an der modernen Welt zu verweigern. Diese Sorge war unbegründet, allein schon weil die Fab-Betreibirn ihrerseits ja auch viel zu abhängig von Gartenfarmen und anderen Projekten waren, als dass sie sich gegen alle anderen hätten stellen können – zumal nie so recht klar wurde, was sie mit einer Erpressung letztlich hätten erreichen können.
Inzwischen ist die Gedruckte Elektronik so leistungsfähig geworden, dass sie auch zur Herstellung von Mikrochips sinnvoll eingesetzt werden kann. Elektrodrucker funktionieren ähnlich wie Tintenstrahldrucker, arbeiten aber mit deutlich höherer Auflösung und verdrucken anstelle von Tinte verflüssigte elektronische Funktionsmaterialien (leitfähige Polymere, Silber-Partikel, Kohlenstoff). Für komplexe elektronische Elemente werden mehrere Funktionsschichten übereinander gedruckt. Da es die nötigen Geräte in den meisten Fabhubs gibt, sind die hochspezialisierten Halbleiter-Fabs heute Auslaufmodelle.

Fabhubs ergänzen die häusliche Küchenfabrikation um Maschinen, die größer und vielseitiger sind als das, was man normalerweise zuhause herumstehen hat, und die allen Menschen in ihrer Umgebung zur freien Verfügung stehen. Zur typischen Ausstattung gehört neben großen und schnellen CNC-Fräsmaschinen und 3D-Druckern eine Laserschneidmaschine, die mittels eines starken Laserstrahls beliebige Formen in Metall- und andere Platten schneiden sowie Beschriftungen und Bilder eingravieren kann. Dazu kommen die erwähnten Elektrodrucker sowie Bestückungsautomaten, die elektronische Bauelemente programmgesteuert auf Platinen platzieren und verlöten. Die Platinen selbst werden per CNC-Fräse hergestellt.

Meist gibt es auch einige Geräte zur Anfertigung von Kleidung und anderen Textilien, am beliebtesten sind Strick- und Nähmaschinen. Per CNC-Strickmaschine lassen sich Stoffe der gewünschten Größe und Form herstellen. Dank des zu Beginn der kapitalistischen Industrialisierung erfundenen Jacquard-Verfahrens können diese beliebige Muster aufweisen. Anschließend werden sie per Nähmaschine vollautomatisch zusammengenäht. Manche Leute haben kleinere Varianten dieser Maschinen zuhause, aber die meisten gehen dafür in den nächsten Fabhub.

Quelle: „etwas fehlt. Utopie, Kritik und Glücksversprechen.“ von jour fixe initiative berlin (Herausgeber), Edition Assemblage (2013).

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